Rheintalforum "Bedarfsentwicklung Pflege & Betreuung älterer Menschen"
15. Mai 2009
Siechenhaus Bregenz
Eine gemeindeübergreifende Zusammenarbeit in der Pflege und Betreuung älterer Menschen ist ein wichtiges Anliegen der Vorarlberger Rheintalgemeinden. "Im Rheintal wohnen rund 1.300 Menschen in Pflege-, Altersheimen und Seniorenwohnungen. Etwa ein Drittel der Personen kommt ursprünglich nicht aus der Gemeinde, in der sie jetzt betreut werden", berichtet "Vision Rheintal"-Projektleiter Martin Assmann. Weitere 5.700 ältere Menschen nutzen in den 29 Rheintalgemeinden die Dienste der Hauskrankenpflege, der Mobilen Hilfsdienste (MOHI) und anderer ambulanter Pflegeinstitutionen. Einige dieser Einrichtungen - vor allem in kleineren Gemeinden - arbeiten bereits jetzt gemeindeübergreifend.
ZUSAMMENFASSUNG
Die Frage der Bedarfsentwicklung in der Betreuung und Pflege erörterten etwa 100 Interessierte aus dem ganzen Land bei einem Rheintalforum am 15. Mai im Siechenhaus in Bregenz. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit dem Pflege- und Betreuungsnetzwerk Vorarlberg statt. Martin Hebenstreit vom Verein connexia betonte zu Beginn, dass die möglichst gute Zusammenarbeit aller Dienste unumgänglich für ein optimales Angebot in diesem Bereich sei. "Die Ergebnisse dieses Forums sind eine wichtige Basis für die weitere Arbeit des Pflege- und Betreuungsnetzwerks Vorarlberg."
Impulsreferat "Versorgungssituation von pflegebedürftigen Menschen im sozialen und demografischen Wandel": Professor Baldo Blinkert, Leiter des Freiburger Instituts für angewandte Soziawissenschaften (FIFAS):
Blinkert präsentiert Prognosen, die das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS) in Freiburg (D) erarbeitet hat. Die Betrachtung der demografischen Entwicklung im Zeitraum 2006 bis 2050 ergibt folgendes Bild: Der Anteil älterer und hochbetagter Menschen steigt stark an. Ab dem 80igsten Lebensjahr erhöht sich auch der Pflegebedarf drastisch (Demenz wird beispielsweise um einen Faktor von 1,6 zunehmen). Unter Berücksichtigung von lediglich demografischen Entwicklungen erhöht sich der Pflegebedarf um den Faktor zwei. Werden soziale Einflüsse wie die sich ändernde Altersstruktur, die höhere Erwerbstätigkeit von Frauen oder der Umstand, dass immer mehr ältere Menschen allein leben, miteinbezogen, erhöht sich der Faktor auf fünf.
Diese Zahlen zeigen, welcher Bedarf auf uns zukommt.
70 Prozent der Pflegebedürftigen werden heute in häuslicher Pflege betreut. Der auf uns zukommende Pflegebedarf werde daher nur bewältigt werden können, wenn die häusliche Pflege attraktiver gemacht werde, so Blinkert. Die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege müsse unterstützt werden, zum Beispiel durch Dienste, die die Hauskrankenpflege erleichtern.
"All diese Bemühungen verhindern aber nicht dass sich zwischen der Anzahl Pflegebedürftiger und denen, die bereit sind, Pflegebedürftige zu Hause zu betreuen, eine Schere auftut", so Blinkert. Die Prognose für 2050 zeigt, dass zwei Drittel an Pflegebedürftigen einem Drittel an "informellem Pflegepotential" gegenübersteht.
Von öffentlicher Hand seien daher neue Finanzierungsmodelle zu erarbeiten, flexible Übergangsformen zwischen stationärer und häuslicher Pflege zu schaffen und über Anreizmodelle die häusliche Pflege attraktiver zu machen.
Impulsreferat "Determinanten der Nachfrage nach Leistungen der Altenhilfe": Professor (FH) Erika Geser-Entleitner und Christoph Jochum, Unternehmensberater und Sozialplaner:
Erika Geser-Engleitner und Christoph Jochum präsentieren die Erhebungen und Prognosen, die für den Zeithorizont 2003 bis 2020 erarbeitet wruden. Die 9000 Pflegebedürftigen im Jahre 2003 in Vorarlberg wurden zu 60 Prozent in häuslicher Pflege mit ambulanten Hilfsdientsten betreut. 19 Prozent wurden stationär betreut. Der für das Jahr 2020 errechnete Pflegebedarf für Vorarlberg unter Berücksichtigung der Demografie entspricht der Studie von Prof. Blinkert. Das gilt sowohl für den Pflegebedarf wie für das "Töchterpflegepotential" (bei Blinkert informelles Pflegepotential).
Der Vergleich der Prognoserechnung mit dem Ist-Stand 2008 zeigt bereits, dass das Wachstum höher ist als angenommen. Der Bedarf an Heimplätzen ist allein in diesen fünf Jahren um 20 Prozent, in der Hauskrankenpflege um 15 Prozent und bei den Mobilen Diensten um 56 Prozent gestiegen. Im Gegensatz dazu zeigt auch die auf Vorarlberg bezogene Erhebung, dass das "Tochterpflegepotential" um rund ein Drittel schrumpfen wird.
Grundsätzlich seien die bestehenden drei Säulen - Heimpflege, Hauskrankenpflege und Mobile Dienste - der richtige Weg. Der Bedarf werde jedoch bis zum Jahr 2020 stark zunehmen: In der Heimpflege um 47 Prozent, bei der Hauskrankenpflege um 43 Prozent (weil diese in Vorarlberg bereits sehr gut ausgebaut ist) und am meisten bei den Mobilen Diensten (102 Prozent).
"Dass die proaktive Sozialpolitik in Vorarlberg richtig ist, zeigt der Vergleich von Plan und Ist, bezogen auf die letzten fünf Jahre. Mit der in den letzten Jahren geschaffenen Infrastruktur kann derzeit der Bedarf gedeckt werden", so Christoph Jochum.
Impulsreferat "Herausforderungen in der Altenhilfe aus Sicht der Verwaltung": Peter Hämmerle, Leiter des Fachbereichs Senioren, Pflegesicherung und Sozialhilfe des Amts der Vorarlberger Landesregierung:
Sowohl der Vortrag von Prof. Blinkert wie die Ausführungen von Erika Geser-Engleitner und Christoph Jochum zeigten die Komplexität bei der Planung des Pflegebedarfs. Es werde künftig nicht mehr genügen, nur den Bedarf der eigenen Kommune zu sehen. "In den Regionen wird es politische Prozesse benötigen, um für einen regionalen Bedarf auch eine regionale Antwort zu finden."
Mit der Studie "Die Entwicklung der Pflegeressourcen im Bereich der Altenpflege Vorarlberg 2003 - 2020" (Geser-Engleitner und Jochum) sei eine neue qualitative Dimension in die Sozialplanung des Landes eingebracht. Hier werde das Thema gesamthaft betrachtet und alle Bereiche in der Pflege und Betreuung älterer Menschen miteinbezogen.
Auch die in Vorarlberg sehr gut ausgebaute Hauskrankenpflege mit der Untersütztung der örtlichen Krankenpflegevereine müsse künftig regional betrachtet werden. Regional geltende "Rahmenzeiten" beispielsweise müssen diskutiert und dem Kunden kommuniziert werden. "Dazu müssen alle Anbieter einer Region mitwirken und es darf nicht von der subjektiven Betrachtung lokaler Entscheidungsträger abhängig sein."
Um die Logik des Sozialhilferecht bei der Finanzierung der Langzeitpflege zu überwinden, seien zusätzliche finanzielle Mittel notwendig. Grundsätzlich sei er überzeugt, dass das jetzige Prinzip der Geldleistung vor allem im ambulanten Bereich richtig sei. Pilotversuche in Deutschland mit individuellen Pflegebudgets zeigen, dass Geldleistungen einen höheren Aktivierungseffekt bei informellen Hilfssystemen haben.
"Kooperationen werden der Schlüssel für die Herausforderungen in Sachen Pflege sein", sagt Hämmerle. Das gelte sowohl für gemeindeüberschreitende Konzepte in diesem Themenbereich wie auch für die Kooperation bei Dienstleistungen innerhalb von Städten. Beispiele gebe es bereits bei den Hofsteiggemeinden und im Vorderland.
In drei Kleingruppen wurde anschließend die Frage "Wie sollen Land und Gemeinden auf die bevorstehende Entwicklung reagieren?" diskutiert. Unmittelbar in der Pflege Tätige, Vertreter von Organisationen udn politische Mandatare berichteten über Erfahrungen und Bedürfnisse. Die Ergebnisse sind eine wichtige Grundlage für die weitere Arbeit der Pflege- und Betreuungsnetzwerks Vorarlberg.







